Zum 50. Jubiläum des Mädchenheims berichtet die einstige Bewohnerin Marion Stroh: „Ich wusste, wenn ich die Hilfe annehme, kann ich es aus der Gosse schaffen.“
Marion Stroh steht heute mitten im Leben. Sie ist seit 34 Jahren verheiratet, Mutter eines inzwischen erwachsenen Sohnes. Sie wohnt in ihrem eigenen Einfamilienhaus und arbeitet in Teilzeit bei REWE, hat dort eine stellvertretende Führungsposition. In ihrer Freizeit engagiert sie sich im örtlichen Kirchenvorstand. Die 55-jährige Frau hat etwas aus ihrem Leben gemacht, wie man so sagt. Die Vorzeichen für sie standen aber ganz und gar nicht günstig. Als Teenager erlebt sie die Scheidung ihrer Eltern mit. Marions Leben an der Seite ihrer Mutter gerät immer mehr in Schieflage, als diese einen neuen Partner kennenlernt. Ihre pubertierende Tochter überlässt diese ihrem Schicksal. Die 13-Jährige streunt tagelang mit Freundinnen durch die Straßen, schwänzt die Schule. Bis jemand vom Jugendamt bei ihrer Mutter auf der Matte steht. Zunächst kommt für den Teenager eine Verwarnung, dann die eigene Einsicht: So kann es nicht weitergehen. Sie packt ein paar Sachen und erklärt den Leuten vom Jugendamt, dass sie es selbst möchte. Sie möchte raus aus dem Dunstkreis schlechten Einflusses, weg von ihrem Zuhause, das keines ist und weg von den anderen Mädchen auf der Straße. „Ich habe mich gewissermaßen selbst nach Sankt Ludwig eingeliefert“, resümiert sie heute.
Wiedersehen am Sommerfest
Beim alljährlichen Sommerfest im AWZ traf Marion Stroh viele Ehemalige und Weggefährtinnen mit großer Freude wieder. Ihre Erzieherin von damals, Helga Katzenberger, heute Maier, erkennt sie gleich. Im Ehemaligencafé zum 50. Jahrestag des 1965 neu erbauten Mädchenheims von Sankt Ludwig schwelgen einstige Bewohnerinnen aus fünf Jahrzehnten im „Weißt-du-noch“. Sie tauschen Erinnerungen und vielfach auch Kontaktdaten aus. Manche Frauen sind lange nicht mehr dort gewesen. Vor knapp 30 Jahren war Marion Stroh zuletzt in Sankt Ludwig. Sie lebte ihr eigenes Leben, gründete eine Familie, ging arbeiten, suchte sich ehrenamtliche Betätigung und füllte so ihre Tage gut aus. An Einiges erinnert sie sich direkt. „In dem kleinen Teich sind wir immer geschwommen. Und die Gärtnerei habe ich sofort wieder erkannt – nur größer ist alles geworden.“
Zwei Jahre im Mädchenheim
Was sie damals erwartete, wusste sie zu Beginn nicht. Sie hatte nur gehört, dass es da einen Ort und Menschen gibt, der sich um „Mädchen wie mich“ kümmert. Doch sie hatte begriffen, dass es ihre letzte Chance ist. Eine Chance, die sie fortan nutzt. In Sankt Ludwig bezieht sie mit einem anderen Mädchen ein Zweierzimmer. Zehn bis zwölf junge Frauen sind in einer Gruppe beherbergt. Mit den anderen Mädchen versteht sie sich sofort, auch der Umgang mit den Schwestern tut ihr gut. Die Theresiengruppe gibt ihr Rückhalt und Schutz. „Ich habe nie so viel Herzlichkeit und Zuwendung erfahren wie dort“, sagt sie. „Ich konnte über alles reden, bekam unendlich viel Hilfestellung für mein weiteres Leben.“ Zwei Jahre bleibt sie dort, von 1975 bis 1977 wird das Mädchenheim im Kloster ihr Zuhause. Sie geht zur Schule, macht ihren Abschluss. „Mit Fräulein Helga, Fräulein Sigrid und Schwester Agnella habe ich viele Gespräche geführt.“ Sie erinnert sich an alle, die ihr geholfen haben: Da waren Schwester Alfriedes und Schwester Edelhilde. „Bei Schwester Justina in der Küche habe ich ein berufsbezogenes Jahr absolviert“, sagt sie. Kochbuch und Schürze von damals hat Marion Stroh bis heute.
Disziplin muss sein
Leicht war es nicht immer in „Lui“, wie Insider es nennen. Ein wenig streng sei es durchaus zugegangen, erinnert sie sich. „Wir gingen sonntags in die Kirche, wir mussten beichten und siezten auch die Schwestern.“ Das war ok, findet sie, war der Achtung geschuldet, nicht jedoch der Beziehung zueinander. Kam man zu spät vom Einkaufen, gab es bisweilen einen Anpfiff und ein, zwei Tage Hausarrest oder Sonderdienste. „Danach war es aber auch wieder gut“, resümiert Stroh. Dem Verhältnis untereinander habe dies ebenfalls keinen Abbruch getan. „Es hat niemandem an etwas gefehlt.“ Im Gegensatz zu ihrem früheren Leben gab es für Marion Stroh regelmäßige Mahlzeiten, ein sicheres Daheim, für den persönlichen Bedarf die Kleiderkammer, jährlich eine gemeinsame Reise und samstags manchmal sogar Tanzabende mit den Jugendlichen aus der Umgebung. „Die Schwestern haben immer mitgetanzt und mitgefeiert.“ Immer wieder habe sie sich selbst ermahnt, trotz mancher Strenge dabeizubleiben, durchzuhalten. „Ich glaube, ich war nie ein Problemfall. Ich wusste, wenn ich die Hilfe annehme, kann ich es aus der Gosse schaffen“, beschreibt sie ihr damaliges Denken. Es habe jedoch gewisser Regeln bedurft. Aus den fest vorgegebenen und vorgelebten Strukturen habe sie gelernt, Kraft zu gewinnen und ihr späteres Leben zu meistern. „Ein bisschen Strenge kann nie schaden“, sagt sie heute. „Das Setzen von Grenzen in der Erziehung ist wichtig. Das habe ich später auch meinem Sohn vermittelt.“ Dass sie manchmal etwas rau im Umgang ist sagt Marion Stroh über sich. Das ist der Selbstschutz, sagt sie. Bevor ihr jemand zu nahe tritt oder wehtut, wechselt sie in diesen Schutzmechanismus.
Wegbegleiter Ehemann
Beinahe wäre die ehemalige Lui-Bewohnerin doch noch vom Weg abgekommen: Als sie nach Sankt Ludwig eine Lehre zur Konditoreifachverkäuferin beginnt, zieht sie ins Haus ihrer Lehrherrin. Die nutzt sie nur aus, lässt die Auszubildende im eigenen Haushalt schuften und Dienste verrichten, die weit über die Ausbildung hinausgehen. Dann lernt Marion Stroh ihren heutigen Mann kennen, der sie von dort wegholt und bei sich aufnimmt. Eigentlich wollte sie nur bis zu ihrer Abschlussprüfung bleiben. „Ich bin bei ihm hängengeblieben. Jetzt schon 38 Jahre lang“, berichtet sie lachend. Nur mit ihm an ihrer Seite habe sie den begonnenen Weg gut weitergehen können. Ein Glücksfall, sagt sie. „Er ist mein Weggefährte, mein Ratgeber und hat mich all die Jahre stets auf meinem Weg ermutigt und bestärkt.“ Den Mädchen und jungen Frauen des heutigen AWZ rät sie unbedingt, die ihnen gebotene Chance in Sankt Ludwig zu nutzen. „Wer diese Gelegenheit verpasst, der schafft es nicht im Leben.“
Alexandra Helmich